Vorster Straße 2

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In dem Haus, das vor etwa 1930 noch die Hausnummer 30 hatte, wohnte vor dem Zweiten Weltkrieg die jüdischen Eheleute Rudolf und Selma Bruch mit ihren Kindern Herbert und Ilse. Rudolf Bruch betrieb hier eine Viehhandlung. Im Dezember 1941 wurde er gemeinsam mit seiner Frau Selma und seiner achtjährigen Tochter Ilse nach Riga deportiert. Er starb im Lager Salaspils. Von seiner Frau und seiner Tochter gab es kein Lebenszeichen mehr. Die Umstände ihres Todes sind ungeklärt. Laut Heimatbuch emigrierte Rudolfs Sohn Herbert 1938 im Alter von etwa 6 Jahren nach England - wie und mit wem ist dort nicht berichtet.[1]

Ebenfalls im Haus wohnten zu dieser Zeit Ilses Eltern Abraham, genannt Albert und Johanna Goldschmidt, die Eltern seiner Frau Selma, sowie deren Sohn und Selmas Bruder Leo Goldschmidt. Über das Schicksal der Familie, insbesondere in der sog. Reichskristallnacht am 10. November 1938 berichtet ausführlich Hans Kaiser im 2. Band von "Kempen unterm Hakenkreuz".[2] Siehe auch unten den Artikel in der Rheinische Post vom 31. Oktober 2014.

1939 hat Abraham Goldschmidt das Haus verkauft an den Installateur Josef Kresken und seine Ehefrau Hedwig, geb. Voetz. Kresken führten später ein Haushaltswaren-, Elektro- und Installationsgeschäft am Buttermarkt 10.


Nach dem Krieg war hier lange das Fahrradgeschäft Hüren-Tobrock, das vorher den Betrieb in der Kuhstraße 13 hatte. Mit Metternich in der Vorster Straße 4 waren hier also lange zwei Fahrradgeschäfte nebeneinander. 1978 wurde das Haus dann umgebaut. Im völlig neu gestalteten Erdgeschoss eröffnete Alfred Amberg eine Bäckerei und Konditorei sowie das Café am Ring. Zuvor hatte er mit seiner Frau Maria acht Jahre lang die Bäckerei und Konditorei der Familie Beulertz an der Mülhauser Straße gemietet, die er nun noch einige Jahre als Filiale weiterführte.

2006 übernahm sein mittlerer Sohn Andreas mit seiner Frau Katja den elterlichen Betrieb. Alfred Amberg verstarb am 3. November 2022.


Bericht aus der Westdeutschen Zeitung vom 02.Januar 2006:[3]

"Mein Sohn modelliert sehr kreative Marzipantorten. Kürzlich hat er für eine Fast-Food-Kette eine Torte hergestellt, die wie ein Hamburger aussieht", erzählt Alfred Amberg stolz über seinen Sohn Andreas. Der übernahm mit seiner Frau Katja am Samstag das elterliche "Cafe am Ring".

Nach 35 Jahren legen Maria und Alfred Amberg die Geschäftsführung in die Hände der jüngeren Generation. Die neuen Geschäftsführer versprechen: Man wolle die Kunden weiterhin mit feinen, süßen Leckereien verwöhnen.

"Es ist ein nahtloser Übergang. Schließlich ziehen sich die Eltern nicht aus dem Geschäft zurück", erklärt der 30-jährige Konditormeister. "Meine Eltern gehen nicht in Rente! Bei uns vollzieht sich bloß ein Generationswechsel. Wir Jüngeren übernehmen das Ruder. Aber alle vier sind wir weiterhin in einem Boot."

"Ich wusste schon mit zehn Jahren, dass ich Konditor werden will", erinnert sich Alfred Amberg. Der inzwischen 63-Jährige stammt aus Holzheim bei Neuss. Mit seiner Frau Maria verschlug es ihn im Jahr 1970 frisch verheiratet nach Kempen.

Sie pachteten zunächst die Konditorei Beulertz an der Mülhauser Straße. Acht Jahre später kaufte das Ehepaar das Haus an der Ecke Ring/Vorster Straße. Das ehemalige Fahrradgeschäft bauten sie in eine Konditorei und ein Cafe mit 33 Plätzen um. Sie nannten es "Cafe am Ring".

Amberg erinnert sich: "Wir haben am Donnerstag, den 7. September eröffnet. Am Tag darauf war hier das große Schützenfest. Und so kamen viele Leute, die die gute Stube mal ausprobieren wollten."

Die Ambergs zogen mit der Zeit so viele Gäste an, dass die 33 Plätze nicht mehr ausreichten. Vor fünf Jahren beschlossen sie, anzubauen. Das Hinterhaus musste weichen, es entstanden eine neue Backstube und weiterer Platz im Stil eines Wintergartens für Gäste. Wenn im Sommer auch noch der Garten offen hat, können Ambergs rund 80 Gäste drinnen und weitere 30 draußen bewirten. Diesen Neubau haben auch Sohn Andreas und Schwiegertochter Katja mitgetragen.

Die beiden Konditorenmeister hatten sich auf der Meisterschule in Köln kennen gelernt. Seit 1998 arbeiten sie fest im elterlichen Betrieb. "Wir sind und bleiben ein Familienbetrieb", stellt Andreas Amberg klar. Und dort ist auch Zuwachs in Sicht. Voraussichtlich im März bekommt die zweijährige Angelina Verstärkung, verrät Katja Amberg.

Andreas ist übrigens der mittlere der drei Amberg-Söhne. Die anderen beschäftigen sich beruflich jedoch nicht mit dem süßen Naschwerk, das Andreas fabriziert. Sein älterer Bruder Richard (32) ist Ingenieur, der jüngere Philipp (24) lernt in St. Diego das Hotelfach.



Hans Kaiser, Rheinische Post, 31. Oktober 2014:

Kempener Kinder in der Gaskammer

Nach den Ausschreitungen der "Kristallnacht" versuchten die jüdischen Eltern, ihre Kinder ins Ausland zu retten. Trotzdem wurden zwei von ihnen ermordet.

Kempen 10. November 1938: "Kristallnacht" in Kempen. Am Haus der Familien Goldschmidt und Bruch, Vorster Straße 2 (heute: Café Amberg), schlagen der Polizeihauptwachtmeister Ludwig Oberdieck und mehrere Kempener SA-Männer das Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss ein und treten die schwere Haustür aus ihren Angeln. Wilde Drohungen brüllend, stürmen sie in den ersten Stock, verwüsten dort das kleine Wohnzimmer der Familie Bruch und wenden sich den Schlafräumen zu. Aber hier tritt ihnen Selma Bruch (35) entgegen: "Bitte! Da schlafen unsere Kinder. Die sind doch noch klein, bitte, bitte, tut ihnen nichts." Einer der Nazis schreit nur: "Was interessieren uns deine Judenbälger? Bring die bloß Qraus!" Aber vor der Tür des Kinderzimmers bleiben sie doch stehen. Dann entdecken sie im Wohnzimmer ein Klavier, reißen das Fenster auf und werfen das schwere Instrument durch das mittlere Fenster auf die Straße.

Zeitzeugen beobachten von der Straße aus, wie am offenen Fenster links daneben die vierjährige Ilse Bruch steht und herzzerreißend weint. Dann nimmt Selma Bruch ihre beiden Kinder, Ilse und den sechsjährigen Herbert, und läuft mit ihnen auf die Straße, begleitet von der Großmutter, während sie noch hinter sich das Splittern von Glas und das Krachen der auf den Boden geworfenen Gegenstände hört. Vor dem Haus angekommen, sieht sie auf dem Bürgersteig schon den zerbrochenen Tisch, die Stühle und die Spielzeugkommode aus dem Kinderzimmer liegen, daneben Stücke von Spielzeug. Während sie noch unten steht, fliegen aus dem Schlafzimmerfenster der Eltern im ersten Stock der Kleiderschrank, Lampen, Bücher und zerrissene Oberbetten, letztere umwirbelt von einem Gestöber aus Bettfedern. Schreckensstarr klammern sich die Kinder an die Rockzipfel von Mutter und Großmutter, sehen mit an, wie ihr Zuhause sich in Scherben auflöst.

Unter dem Eindruck der Ausschreitungen in der "Kristallnacht" öffnen die Niederlande und England ihre Grenzen für jüdische Kinder. Am 4. Januar 1939 fahren Selma Bruch und ihre Schwiegermutter Adele Rath aus Dülken mit Ilse und Herbert zum Kölner Hauptbahnhof, wo sie sie holländischen Frauen übergeben. Die bringen sie nach Bergen aan Zee in Nordholland, westlich von Alkmaar. Ilses und Herberts Vater, Rudolf Bruch, ist während der "Kristallnacht" wie alle männlichen Juden von der Kempener Polizei verhaftet worden, um nach Dachau deportiert zu werden. Erst am 23. Januar 1939 kommt er zurück. Vom Kempener Arbeitsamt wird er nun als Hilfsarbeiter vermittelt; Selma stellt in Heimarbeit künstliche Blumen und Gürtel her. Seit längerer Zeit streben sie die Ausreise nach England an, hoffen, ihre Kinder dort in Freiheit wiederzusehen.

Diese Hoffnungen werden durch den Ausbruch des Krieges im September 1939, durch den Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande im Mai 1940 zunichte gemacht. Stunden vor dem Eintreffen der deutschen Truppen gelingt es dem Flüchtlingskomitee von Bergen aan Zee, am 17. Mai eine Handvoll jüdischer Kinder zusammenzuraffen und sie im Hafen auf einen Kohlenfrachter zu retten. Unter ihnen ist auch der siebenjährige Herbert Bruch. Trotz der Gefährdung durch deutsche Artillerie und Bomben erreicht das langsame Schiff England. Ilse Bruch aber muss die holländische Familie, die das liebenswerte Mädchen wie eine eigene Tochter ins Herz geschlossen hat, verlassen und nach Kempen zurückkehren.

Am 10. Dezember 1941 wird Ilse Bruch mit ihren Eltern in das Getto von Riga deportiert. Dort stirbt der Vater, von der KZ-Haft in Dachau geschwächt, von schwerer Arbeit körperlich erschöpft, am Hungertyphus. Am 2. November 1943 wird das mittlerweile neunjährige Mädchen in einen Transport nach Auschwitz eingereiht. Ihrer Mutter hat die SS zwar eine Arbeit zugeteilt, die eine Art Lebensversicherung für sie darstellt: Als geschickte Näherin muss die Kempenerin die Kleider der Erschossenen von Blutspuren säubern und dann die Einschusslöcher kunststopfen, damit die Textilien in Deutschland im Rahmen des Winterhilfswerks an bedürftige "Volksgenossen" verteilt werden können. Aber als Selma Bruch sieht, wie ihre Tochter mit anderen Kindern auf einen Lkw getrieben wird, kommt sie mit, damit Ilse beim Sterben in der Gaskammer nicht allein ist.

Ilse Bruchs älterer Bruder Herbert lebt heute, 82 Jahre alt, in Kalifornien. Mehrere Versuche, Kontakt mit ihm aufzunehmen, blieben ohne Resonanz. Mit Kempen will er wohl nichts mehr zu tun haben.

1939 ist es auch den Eheleuten Andreas und Paula Mendel, mittlerweile wohnhaft im Haus Tiefstraße 15, gelungen, ihre 15jährige Tochter Liesel mit einem Kindersammeltransport auf den Weg nach Holland zu bringen, wo sie bei Verwandten im Haushalt hilft. Aber 1941 werden die in Kempen verbliebenen Mendels mit Liesels älterem Bruder Kurt nach Riga deportiert. Die Niederlande sind 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt worden. Vom 2. Mai 1942 an muss das Mädchen den Judenstern tragen. Als Liesel sich bei den Behörden nach dem Verbleib ihrer Familie erkundigt, wird sie selbst verhaftet und zunächst in das holländische KZ Westerbork gebracht. Bruchstückhaften Nachrichten zufolge soll sie am 15. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert worden und dort am 30. September 1942 umgekommen sein. Offiziell nachgewiesen ist das nicht. Wir wissen also nicht, wo Liesel Mendel aus Kempen gestorben ist.

Nachdem der Stadtrat einen ersten Antrag auf Verlegung von Stolpersteinen abgelehnt hatte, haben jetzt Kempener Schulen, die evangelische Kirchengemeinde und eine Initiative die Verlegung der Gedächtniszeichen in der Stadt Kempen erneut beantragt. Die RP erinnert an einige der NS-Opfer, deren Andenken sie dienen würden.


Quellen:

  1. Heimatbuch des Kreises Viersen. 1979, S. 242
    • Bruch, Rudolf
    geb. 20. 5. 1900 Dülken
    Viehhandlung
    Kempen, Vorster Str. 2
    dep. Riga 11. 12. 1941 †
    • Bruch, Selma, geb. Goldschmidt
    geb. 20. 4. 1903 Dülken
    Ehefrau des Rudolf Bruch
    Kempen, Vorster Str. 2
    dep. Riga 11. 12. 1941 †
    • Bruch, Ilse
    geb. 16. 1. 1934 Dülken
    Kempen, Vorster Str. 2
    dep. Riga 11. 12. 1941 †
    • Bruch, Herbert
    geb. etwa 1932
    Sohn des Rudolf Bruch
    Kempen, Vorster Str. 2
    emigriert England 1938
    • Goldschmidt, Albert
    geb. 20. 5. 1900 Dülken
    Viehhandlung
    Kempen, Vorster Str. 2
    dep. Riga 11. 12. 1941 †
    • Goldschmidt, Leo
    geb. 9. 8. 1897 Oedt
    Viehhändler
    Kempen, Vorster Str. 2
    (Schulstr. 10)
    †6. 12. 1941 Kempen, Selbstmord vor Dep. Riga

    Westdeutsche Zeitung, 1.12.2004:
    "Dort, wo heute das Café am Ring der Familie Amberg ist, lebten früher die Juden Rudolf, Selma und Ilse Bruch sowie Abraham, Helene, Albert und Rosa Goldschmidt. Am Haus hängt bereits eine der Gedenktafeln, die auf Initiative des Kempener Historikers Hans Kaiser befestigt worden waren."WZ-Newsline 1.12.2014
  2. Kaiser, Hans, Kempen unterm Hakenkreuz, Band 2, Viersen, 2014, S. 353
  3. Quelle: http://www.cafeamring.de/HOME/Presse